Offener Brief an Andrea Nahles

Liebe Andrea,

 

während der letzten Vorstandssitzung des SPD-Unterbezirks Wolfenbüttel haben sich die Genossinnen und Genossen des Vorstandes zum wiederholten Mal mit der Situation der Partei beschäftigt. Wir schätzen den derzeitigen Zustand als verheerend ein. Besonders die Wirkung in der Öffentlichkeit, die durch die Bundespolitik und explizit durch die in Verantwortung stehenden Akteure der SPD geprägt ist, führt zu Politikverdrossenheit und hat eine negative Wirkung auf die SPD in Gänze.

 

Die ständig neuen Botschaften und vollmundige Bekundungen führen dazu, dass auf der Bundesebene keine einheitlichen Ziele erkennbar sind: Hartz IV abschaffen, Sabbatjahr einführen, Chancen-Konto umsetzen, 2 Euro pro Liter Benzin fordern und vieles weitere zeigt die bunte Vielfalt des „Chaos“. Wir haben den Eindruck, dass sich einige an der Spitze unserer Partei jeden Tag neue Themen ausdenken, hinter denen die Basis nicht steht.

Nehmen wir mal das Thema Hartz IV: Hartz IV hat für uns vorrangig nur einen einzigen Makel: das ist die Gleichstellung von arbeitslos gewordenen langjährigen Beschäftigten, mit solchen Personen, die niemals gearbeitet haben. Jetzt wollt Ihr gegenüber der Bevölkerung etwas als schlecht verkaufen, zu dem wir über viele Jahre „Ja“ gesagt haben? Das kann nur schwer vermittelt werden.

 

Eine Strategie ist auf Bundesebene leider nicht erkennbar. Dabei liegen doch die sozialdemokratischen Themen auf der Hand: Zu hohe Mieten, Pflege, Kriminalität und Migration. Wenn wir nur einige dieser Themen auf Dauer annehmen und erfolgreich behandeln, werden uns die Menschen auch wieder als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten respektieren. Das bisherige Themenhopping muss aufhören!

 

Besonders enttäuscht sind wir von widersprüchlichen Verhaltensweisen und einer mangelnden Kommunikationsstrategie. Wenn der Bundesarbeitsminister seine guten neuen Gesetze den Medien vorstellt und damit sozialdemokratisches Handeln unterstreicht, ist es nicht hinnehmbar, wenn der SPD-Generalsekretär am gleichen Tag mit sinnfreien Aussagen zu Harz IV, das gute Thema wegholt.

So kann gute Politik nicht funktionieren und es liegt in der Hand der Parteispitze, dass hier strategisch vorgegangen wird. Persönliche Karriereabsichten und eine überdurchschnittlich ausgeprägte „Mediengeilheit“ haben hier keinen Platz!

 

Wir haben den Eindruck, dass es Euch nur um euch selbst geht. Es erscheint so, dass einige im Parteivorstand die Lebenswirklichkeit der Bürgerinnen und Bürger nicht kennen. Weit weg vom Alltag der Menschen zu argumentieren, ist nicht das Markenzeichen einer Volkspartei. Glaubwürdigkeit oder gar Vertrauen können so nicht (wieder-)hergestellt werden. Wir fordern kein „Raus aus der Groko“, aber es muss klar werden, wofür die SPD steht und wofür die SPD sich engagiert. Das versteht selbst in unseren eignen Reihen bisher niemand.

 

Ein weiteres Beispiel ist die Privatisierung von Leistungen der Daseinsvorsorge: Die Privatisierung von Leistungen der Daseinsvorsorge, insbesondere von Krankenhäusern ist ein großer Fehler. Dies hat zu einer erheblichen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen der Beschäftigten und auch zu einem zum Teil massiven Qualitätsverlust der Leistungen geführt. Der Zustand vieler kommerziell geführter Krankenhäuser sind dafür Belege. Krankenhäuser müssen gemeinnützig sein.

 

Vieles wird auf dem Rücken der Beschäftigten abgewickelt, eine Entlastung (wie eine Steuersenkung) ist nirgends in Sicht. Betriebsrenten und Direktversicherungen werden so hoch belastet, dass sich viele auf das Abenteuer der privaten Vorsorge einlassen. Hier könnte Olaf Scholz als sozialdemokratischer Minister wirken, leider erleben wir ihn als Schäuble II. Auch werden Leiharbeiter immer noch nicht abgesichert und müssen in der ständigen Angst leben, sozial abzusteigen. Das Thema der Sachgrundlosen Befristung ist bereits wieder aufgegeben worden.

 

Ein weiteres Beispiel ist, dass Firmen und Betriebe noch immer von Hedgefonds zerlegt und zerstört werden dürfen. Die Auswirkungen, die die von der SPD vor Jahren vorgenommenen gesetzlichen Veränderungen für viele Beschäftigten heute haben, sind Teil der Vertrauenskrise der SPD.

 

Wir müssen ehrlicher werden! Wir erklären dem Bürger, dass kein Geld zur Verfügung steht und deshalb das Rentenniveau gesenkt werden muss. Gleichzeitig stellen wir für die Bankenrettung und die Versorgung der Flüchtlinge schlagartig Milliarden bereit, ohne in die roten Zahlen zu kommen. Wer bitte soll uns dann irgendetwas glauben? Das lässt sich nicht vermitteln.

 

Das zukünftige Spitzenpersonal der SPD muss mit allem was es tut auf die Mitte der Gesellschaft zielen und für diese wählbar sein. Die derzeitige Führungsspitze der Partei erfüllt diese Voraussetzungen leider, bis auf wenige Ausnahmen, nicht.

 

Niedersachsen hatte Erfolg mit der inhaltlichen Deckungsgleichheit von Programm, Personen und Partei. Das erkennen wir auf der Bundesebene bisher nicht. Der Vorstand des SPD-Unterbezirks Wolfenbüttel bittet Dich daher, die personelle und inhaltliche Erneuerung der Partei umgehend einzuleiten.

 

Viele Grüße

Unterbezirksvorsitzender